Lehramtsstudierende schlagen Alarm: 81% kritisieren PH-Studium als zu praxisfern
Dieser Text ist eine Pressemitteilung des VBE (Verband Bildung und Erziehung) Baden-Württemberg vom 29.09.2025. Das SINUS-Institut führte die Studie durch.

„Das Lehramtsstudium hat Reformbedarf. Während die Praxisphasen motivieren und als gewinnbringend erlebt werden, offenbaren sich deutliche Schwächen bei Organisation, Theorie-Praxis-Verzahnung und der Vorbereitung auf den Schulalltag. Viele Befunde sind standort- und gruppenübergreifend konsistent und weisen auf strukturelle Herausforderungen hin“, fasst Gerhard Brand, Landesvorsitzender des VBE Baden-Württemberg, die Ergebnisse einer im Auftrag des VBE durchgeführten SINUS-Studie zusammen.
Studierende bewerten PH-Studium nur bedingt positiv
Nur vier von zehn Studierenden sind aktuell mit ihrem Lehramtsstudium an einer Pädagogischen Hochschule (PH) zufrieden (41 %). Fast ebenso viele (39 %) äußern sich ambivalent („teils/teils“) und ein weiteres Fünftel (20 %) ist explizit unzufrieden. Insgesamt zeigen sich weniger Frauen zufrieden als Männer (39 % vs. 48 %). Zudem sind deutlich weniger Studierende in den Studiengängen Primarstufe (40 %) und Sekundarstufe I (38 %) zufrieden als in der Sonderpädagogik (50 %).
Noch stärker variiert die Zufriedenheit jedoch zwischen den einzelnen PH-Standorten: Während in Heidelberg knapp die Hälfte der Studierenden (48 %) zufrieden ist und nur eine Minderheit unzufrieden (13 %), halten sich in Freiburg die Zufriedenen und Unzufriedenen in etwa die Waage (29 % vs. 27 %). Im Zufriedenheitsindex, bei dem die beiden Gruppen (Zufriedene minus Unzufriedene) gegeneinander aufgerechnet werden, setzt sich Heidelberg klar von den anderen Standorten ab: PH Heidelberg (+36 Punkte), PH Ludwigsburg (+24 Punkte), PH Schwäbisch Gmünd (+20 Punkte), PH Weingarten (+16 Punkte), PH Karlsruhe (+14 Punkte), PH Freiburg (+2 Punkte).
Besonders kritisch bewerten die Studierenden die Organisation und Struktur des Studiums – hier liegt der Anteil Unzufriedener (41 %) deutlich über dem der Zufriedenen (25 %). Einzig an der PH Heidelberg gibt es hier mehr positive als negative Rückmeldungen, während an den anderen fünf PH-Standorten jeweils die kritischen Stimmenanteile überwiegen. „Wenn wir die Lücken an unseren Schulen mit originär ausgebildeten Lehrkräften schließen wollen, dann müssen wir die Attraktivität der Ausbildung flächendeckend sicherstellen – und nicht nur in Heidelberg. Die Studierenden empfinden den Studienaufbau häufig als verwirrend, redundant und schlecht abgestimmt. Sie fordern mehr Flexibilität und Wahlmöglichkeiten bei den Seminaren und Modulen. Die größte strukturelle Problemlage sehen sie jedoch in einer zu starken Theoriezentrierung“, erklärt der VBE-Vorsitzende.
Lehramtsstudium wird als zu praxisfern kritisiert
Die Qualität der Lehre wird unterschiedlich beurteilt: Während die verwendeten Lehrmaterialien mehrheitlich von 53 % der Studierenden als qualitativ hochwertig bewertet werden, sind mit der Qualität der Lehrveranstaltungen nur 37 % zufrieden. Besonders stark kritisiert wird ein unausgewogenes Verhältnis von Theorie und Praxis: Die große Mehrheit (81 %) der Studierenden empfindet das Studium als zu theorielastig und praxisfern. Im Vorbereitungsdienst wird dieser Befund nochmals verstärkt. „Lehrkräfte brauchen eine fundierte wissenschaftliche Ausbildung. Gleichzeitig muss das Lehramtsstudium aber auch auf einen immer komplexeren Schulalltag vorbereiten, der viele unterschiedliche Anforderungen mit sich bringt. Dafür braucht es von Beginn an vielfältige, praxisnahe und praktische Formate, um die notwendigen Kompetenzen zu vermitteln“, erläutert Brand.
Frühere Praxisphasen gewünscht
Acht von zehn Befragten (79 %) fühlen sich in Bezug auf die Praxisphasen motiviert, auf das Studium vor Ort dagegen nur knapp die Hälfte (45 %). Es gibt aber auch Kritik: Mit der Betreuung der Praxisphasen durch die PH-Dozierenden sind nur 38 % zufrieden. Zudem fordern zwei Drittel (65%) der Studierenden zeitliche frühere Praxisphasen. Mehrheitlich wünschen sie sich sowohl im Bachelorstudium (59 %) als auch im Masterstudium (89 %) einen Praxisstart ab dem 1. oder 2. Semester. Eine große Mehrheit wünscht sich sowohl Tagesfachpraktika (81 %) als auch Blockpraktika (84 %). Für Tagesfachpraktika wird mehrheitlich einer Dauer von zwei Semestern oder mehr gefordert, für Blockpraktika werden überwiegend Zeiträume von zwei bis drei Monaten als angemessen erachtet.
Eva Strittmatter, Mitglied im Leitungsteam des Jungen VBE, führt aus: „Schulpraktische Phasen werten das Studium klar auf. Die Studierenden wünschen sich nicht nur mehr und frühere Praxisphasen, sondern auch einen besseren Theorie-Praxis-Transfer. Möglichkeiten gibt es viele: Von Planspielen, kollegialen Fallberatungen oder Rollenspielen über reflektierte Schulbesuche, Tagesfachpraktika und Blockpraktika bis hin zu einem eng begleiteten Praxissemester. Die Begleitung sollte stets durch praxiserfahrene Dozierende erfolgen, die eine Mindestanzahl an Jahren in der Schule gearbeitet haben. Leider ist dies häufig nicht der Fall.“
Vorbereitung auf Berufsalltag bleibt oft unzureichend
Weniger als die Hälfte der Befragten fühlt sich auf didaktische Basiskompetenzen wie die altersgerechte Vermittlung von Unterrichtsinhalten (42 %), den Einsatz digitaler Medien im Unterricht (42 %) oder die Planung von Unterrichtseinheiten (40 %) gut ausgebildet. Auf die Inklusion fühlen sich insgesamt nur 37 %, in der Primarstufe sogar nur 33 % und der Sekundarstufe I nur 30 % der Studierenden gut vorbereitet. Nur drei von zehn Studierenden sehen sich außerdem für die Förderung sozialer Kompetenzen (31 %) oder die Zusammenarbeit im Team (26 %) gut gerüstet. Die größten Defizite liegen allerdings bei der Vorbereitung auf herausfordernde Praxisbereiche: Stressmanagement, schwieriges Schülerverhalten, politische Bildung, Elternarbeit, Zusammenarbeit mit Sozialdiensten oder Schulrecht – jeweils nur 4 % bis 14 % der Befragten sehen sich hier gut vorbereitet.
Kritik gibt es außerdem am Verhältnis von Fachwissenschaft und Fachdidaktik: Sechs von zehn Befragten (59 %) empfinden es als unausgewogen – mit zu viel Gewicht auf der Fachwissenschaft. Nur 38 % der Studierenden fühlen sich gut für ihren Fachunterricht vorbereitet. „Die Einschätzung der Studierenden zur Vorbereitung auf schulische Herausforderungen fällt ernüchternd aus. Insgesamt besteht ein klar erkennbarer Bedarf, die Ausbildung stärker an den konkreten beruflichen Anforderungen im Schulalltag auszurichten – insbesondere mit Blick auf dem Umgang mit herausforderndem Schülerverhalten und die Kooperation mit wichtigen Stakeholdern“, so der VBE-Chef.
Lehramtsstudium: BAföG reicht nicht aus
Die Hauptfinanzierungsquellen der Studierenden sind Unterstützung durch die Familie (32 %), Nebenjob (25 %), Unterhaltszahlungen von Eltern (19 %) und BAföG (16 %). Finanzierungswege wie Stipendium oder Kreditaufnahme sind dagegen kaum relevant. Von den BAföG-Bezieher/innen sagen 72 %, dass dieses nicht ausreicht, um das Studium zu finanzieren.
Dazu erklärt Strittmatter: „Ziel des BAföG ist es, jungen Menschen unabhängig von ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation ein Studium zu ermöglichen. Wenn dies in drei von vier Fällen nicht gelingt, ist die Chancengleichheit hier gescheitert. Das Land muss die Bezüge entweder dynamischer an die Lebenshaltungskosten anpassen oder über bezahlte Praktikumsformate nachdenken. Am besten beides.“
Ableitungen des VBE:
- Stärkung der Praxisphasen: Nutzen, was wirkt! Quantitativ und qualitativ bessere Verankerung der Praxisphasen im Studium. Insbesondere längere Tagespraktika sollten strukturell ausgebaut und systematisch begleitet werden. Die Kooperation mit Schulen ist durch klare Rahmenbedingungen zu stärken.
- Studium stärker auf schulische Realität ausrichten! Eine Curriculum-Reform, die Schlüsselkompetenzen besser integriert – zum Beispiel fächerübergreifende politische Bildung, Umgang mit herausforderndem Verhalten, Elternarbeit.
- Stärkung der Fachdidaktik und der professionsbezogenen Anteile im Studium: Lehrpläne der Hochschulen stärker an den beruflichen Anforderungen ausrichten – zum Beispiel durch Fallarbeit, Reflexionsformate, Schulrechtspraxis.
- Gerechte finanzielle Förderung! BAföG-Reform und Erhöhung von Beihilfen im Vorbereitungsdienst. Finanzielle Entlastung durch strukturelle Maßnahmen – zum Beispiel vergütete Praxisphasen in den Semesterferien. Ende der Sommerarbeitslosigkeit für Junglehrkräfte beim Übergang in den Schuldienst.
Infos zur Studie „Zufriedenheit mit dem Lehramtsstudium in den Pädagogischen Hochschulen in Baden-Württemberg“
Die dargestellten Ergebnisse basieren auf einer repräsentativen Stichprobe von Lehramtsstudierenden an den sechs Pädagogischen Hochschulen in Baden-Württemberg – gewichtet nach Fach, Geschlecht und Hochschulstandort anhand amtlicher und hochschulspezifischer Statistiken. Im Auftrag des VBE Baden-Württemberg hat das SINUS-Institut für Markt- und Sozialforschung vom 29. April bis 18. Mai 2025 eine Befragung von 847 Studierenden durchgeführt. Die Befunde zeigen sich in einer ebenfalls untersuchten Kontrollgruppe von 357 Lehrkräften im Vorbereitungsdienst konsistent.